Der Stil - Wing Chun


STILBESCHREIBUNG

WING CHUN ist kein Kampfsport im eigentlichen Sinne, sondern ein reines Selbstverteidigungssystem. Bekannt ist WC für seinen hervorragenden Infight (den Kampf in der Nahdistanz). Diese Distanz wird geschult, die anderen Distanzen im Stehen (Kick- und Halbdistanz) betrachtet man nur als Hindernisse, um in den Infight zu gelangen.

 

Warum der Infight?

Die grundlegende Überlegung ist einfach. Sowohl in der Kick-, wie auch in der Halbdistanz ist man grundsätzlich auf sein Auge angewiesen, sowohl in der Defensive wie auch in der Offensive. Und das Auge lässt sich täuschen, oder ist schlicht und einfach zu langsam. Kommt ein gegnerischer Angriff, so müsste das Auge diesen erst einmal erfassen, die Information gelangt zu Gehirn, dieses wiederrum müsste den Angriff richtig einordnen und eine geeignete Abwehr erkennen. Anschließend muss das Gehirn die Impulse an den Körper bzw. die Extremitäten senden, um diese die Gegenwehr ausführen zu lassen. Wie sich unschwer erkennen lässt, benötigt dies Zeit. Zeit, die man im Normalfall, selbst wenn man vorbereitet ist (auch dies ist mit Sicherheit nicht immer der Fall) nicht hat. Zudem können auf jeder der oben aufgeführten Stationen noch Fehler passieren, die mit Sicherheit dafür sorgen, dass der Angriff dort landet, wo er unserer Meinung nach nicht landen soll – auf unserem ungeschützten Körper.

Zu dieser Fehleranfälligkeit kommt noch ein externer Faktor hinzu, den geübte Kämpfer immer wieder benutzen und der die Wahrscheinlichkeit eines verheerenden Wirkungstreffers exponentiell erhöht: DIE FINTE.

 

Der Prozess der von der Erkennung des Angriffs bis hin zur Ausführung der geeigneten Gegenbewegung ist schon langsam genug. Täuscht der Angreifer jedoch, sagen wir, einen Faustschlag zu Kopf an, so wird man reflexmäßig die Deckung hoch nehmen. Auf jeden Fall ist die Aufmerksamkeit des Verteidigers auf den oberen Bereich des Geschehens fixiert. Somit wird der Tritt in die Weichteile oder gegen das empfindliche Knie geradezu herausgefordert – das Auge hat sich täuschen lassen. Kein Mensch, auch nicht der geübteste Kämpfer, kann sowohl den oberen als auch den unteren Teil seines Körpers gleichzeitig durch optische Erkennung schützen. Es ist physisch schlicht und einfach unmöglich.

 

 

 

In der Kick-, oder Halbdistanz ist die Erkennung des Angriffs nur optisch möglich, was den Schluss folgen lässt, das diese Distanzen extrem anfällig für gegnerische Treffer sind. Auf der Straße kann der erste Treffer bereits entscheidend sein. Dieses Risiko will man im WC umgehen. Man versucht, geschützt die ersten beiden Distanzen zu passieren, um den Kampf im Infight zu entscheiden. Hier herrschen andere Regeln, oder, man kann sie dem Gegner zumindest aufzwingen. Gemein ist das, was für gewöhnlich als „Sensitivity“ oder „Trapping“ bezeichnet wird. Den Kontakt zum Gegner immer zu suchen, gewissermaßen an seinen Armen mit den eigenen „kleben“ zu bleiben. Dies ist es, was das WC im Nahkampf so gefährlich macht. Man schaltet das Auge als Kontrolldistanz völlig ab. Angriffe, sowie jedes andere Vorhaben des Gegners „fühlt“ man. Und dieses Gefühl kann man erleben. Man spürt den Angriff, bevor er überhaupt beginnt, quasi, während er noch im Aufbau ist. Durch das permanente Wiederholen der Sensitivity-Übungen kann dieses Gespür erzeugt werden, ebenso wie das automatische Ausführen der Gegenwehr. Durch unzählige Wiederholungen gehen diese Bewegungsabläufe in das sogenannte „motorische Lernen“ ein. Ähnlich ist es beim Auto fahren. Der Anfänger oder Fahrschüler kuppelt bewusst, er sieht beim Kuppeln stets auf den Ganghebel, er muss noch überlegen, welcher Gang in welcher Situation angepasst ist. Später, wenn die Routine da ist, geschieht alles automatisch. Er hat diese Situationen so oft wiederholt, dass das Gehirn diese Abläufe als Standardprogramme gespeichert hat. Ebenso verhält es sich im WC-Infight. Die Bewegungsmöglichkeiten des Menschen sind begrenzt und diese Einschränkung ermöglicht es, entsprechende motorisch erlernte Gegenmaßnahmen zu treffen.

 

 

Zwei weitere Vorteile bietet der Infight:

Zum ersten wird es von gewöhnlichen Straßen-Schlägern gänzlich ignoriert. Auch die meisten Kampfstile bieten hier nur absolute Magerkost. Ein Kämpfer, der aus seiner gewohnten Distanz gerissen wird, ist so hilflos wie ein Fisch an Land. Ein Hai ist unter Wasser ein Gegner, dem man als Mensch ohne Waffen nichts entgegenzusetzen hat. Liegt er am Strand und schnappt nach Luft, kann man sich daneben setzen und ihm seelenruhig beim Sterben zusehen. Er stellt nicht mehr die geringste Gefahr dar, vorausgesetzt, man setzt sich nicht direkt vor seine Kiefer. Ebenso ist es beim kämpfen. Was nützt einem Boxer all seine Technik, wenn ein Ringer ihn zu Boden gebracht hat? Was bleibt einem trittstarken Taekwondoka dessen Gegner die Halbdistanz oder den Infight erzwungen hat? Nichts mehr, er hat seine Welt verlassen, um eine andere zu betreten, in der andere Gesetze gelten. Dies ist der große Vorteil des Infights. Im Regelfall werden Schlägereien mit Faustschlägen und Tritten ausgefochten. Befindet man sich nun in einer Distanz, in der das Schlagen sehr schwer wird und das Treten gänzlich unmöglich ist, verlieren ansonsten oft unüberwindbare oder körperlich weit überlegene Gegner ihren Schrecken. Es ist Neuland für sie, das sie nicht einordnen können.

 

 

 

Der zweite Vorteil besteht darin, dass man im Infight andere Waffen einsetzt. Füße entfallen, Faustschläge sind deutlich schwerer zu platzieren, aber dafür bieten sich andere Möglichkeiten. Der Infight ist das Reich der Ellbogen- und Kniestöße. Man geht davon aus, dass ein Ellbogen- oder Kniestoß etwa 10 bis 20 mal effektiver ist als ein Faustschlag oder ein Tritt. Ein Schlag ist Gesicht tut zweifelsfrei weh, er kann zu Blutungen oder Schwellungen führen, aber ein Ellbogen mit der gleichen Wucht richtet echte Zerstörung an. Während für einen geübten Kämpfer eine blutige Nase wirklich kein Grund ist, einen Kampf aufzugeben, nimmt ein zertrümmertes Jochbein wohl so ziemlich jedem Gegner die Angriffslust. Fäuste und Füße sind jedenfalls damit mehr als ausreichend ersetzt.

 

 

 

Hauptwaffe eines WC-Kämpfers sind jedoch die bekannten „Kettenfaust-Stöße“, gerade Fauststöße, die in übereinander und in blitzschnellen Serien geschlagen werden. Was für einen Außenstehenden wie windmühlenartiges Herumschlagen aussieht, sind in Wirklichkeit ausgesprochen präzise und gefährliche Treffer. Die Frequenz dieser Schläge ist einzigartig, geübte Kämpfer kommen auf bis zu 8 Schlägen pro Sekunde! Die Armhaltung während des Schlagens, sowie dieses Dauerfeuer dienen gleichzeitig als effektiver Block. Dermaßen unter Beschuss wagen nur die wenigsten Gegner es überhaupt den Kopf hochzunehmen und sich zu verteidigen. Kettenfauststöße werden stets unter Druck nach vorne ausgeübt, was ihre Wirkung noch verstärkt. Dies bedeutet, dass man nicht statisch da steht und schlägt, sondern am Gegner „kleben“ bleibt und diesen nach hinten drängt. Gleichzeitig gibt das eigene Knie Druck auf das des Gegners, was es diesem unmöglich macht sich durch einen Tritt oder Fußfeger aus dem Angriff zu entziehen. Einmal in dieser Position angelangt, ist ein WC-Kämpfer kaum noch zu stoppen.